Franz
Heute ging es endlich los. Der große Schlag Richtung Süd/Ost nach Puerto Rico, endlich! Lange haben wir uns auf diesen Moment vorbereitet, mit anderen Seglern die ideale Route, den idealen Wind, den passenden Zeitpunkt diskutiert, Wettervorhersagen studiert, verproviantiert. An diesem Sonntag sah es nun so aus, dass der ewige Süd/Ostpassat nun endlich aller Voraussicht nach am Dienstag einschlafen und anschließend die Richtung nach Ost/ Nord/Ost wechseln würde. Das wollten wir ausnutzen. Unser Plan lautete nun: am Sonntagmittag auslaufen, zuerst nach Nord/Osten segeln, um Raum nach Osten zu gewinnen. Danach am Dienstag, wenn der Wind einschläft, unter Motor weiter Richtung Osten Motoren und schließlich, wenn der Wind nach Nord/Ost dreht, am Mittwoch nach Süd/Ost in Richtung Puerto Rico in die gefürchtete Mona-Passage (hohe und steile Welle) abdrehen. Soweit unser Plan.
Am Sonntag kurz vor Mittag hoben wir den Anker und fuhren also aus der Riffdurchfahrt hinaus in den offenen Atlantik. Good bye Grand Turk. Hoffentlich lässt uns die Wetterprognose nicht im Stich. Wir hatten aber ein gutes Gefühl. Als wir die nördlichste Spitze von Grand Turks passiert hatten, änderten wir den Kurs auf Nord/Ost. Ab jetzt hieß es „Am Wind segeln“. Spätestens hier sollte ich erklären, was dies ist. Für alle Segler unter unseren Lesern werden die kommenden Absätze eher uninteressant sein, aber wir finden, dass diese Form des Segelns erklärt werden sollte.
Beim Segeln unterscheidet man zwischen Am-Wind, Halb-Wind und Vor-Wind oder Raumschot-Segeln.
Vor-Wind oder Raumschot-Segeln könnte man auch als „Schönwettersegeln“ bezeichnen. Hier fällt der Wind von hinten, also achterlich ein. Man fährt also mit dem Wind. Folglich nimmt der gefühlte Wind auf dem Boot ab, da sich das Fahrzeug in dieselbe Richtung bewegt, wie der Wind. Dies ist auch die bevorzugte Fortbewegungsform der meisten Blauwassersegler, die sich entlang der Passatrouten um diesen Planeten bewegen.
Halb-Wind-Segeln ist das Segeln mit dem Wind querab, also im 90 Grad Winkel zur Bootslängsachse. Dies ist die schnellste Form des Segelns. Ein scheinbarer Wiederspruch für den nicht segelnden Laien, der natürlich davon ausgeht, dass man am schnellsten vorankommt, wenn der Wind von hinten kommt. Aber hier kommen beschleunigend wirkende Kräfte zur Wirkung, welche durch die Tragflächenformgebung der Segel hervorgerufen werden.
Das Am-Wind-Segeln schließlich ist die anstrengendste Form des Segelns. Im Segel-Chargon heißt es Wind von „vorlicher als querab“. Was bedeutet dies denn nun schon wieder? Was querab ist, brauche ich glaube ich nicht zu erklären. Allerdings muss man den Bereich vorlicher etwas eingrenzen. Im Gegensatz zum Raumschot-Segeln, bei dem der Einfallwinkel des Windes in einem Bereich von 91 Grad bis 180 Grad zur Schiffslängsachse segelbar ist, kann man beim Am-Wind-Segeln mit den allermeisten Booten und Schiffen nur einen Windeinfallswinkel von maximal 60 Grad zur Längsachse segeln. Das heißt, sobald der Wind gegenan steht, beziehungsweise in einem Winkel von 60 Grad Steuerbord oder Backbord zum Schiffsbug einfällt, kann man nicht segeln. Je näher oder höher wir an diesen nicht segelbaren Windeinfallswinkel herantasten, desto höher am Wind segeln wir. Das bedeutet aber auch; die gefühlte Windgeschwindigkeit an Bord nimmt erheblich zu, das Schiff stampft sich in die Wellen (diese kommen in der Regel aus der Windrichtung) ein, die Geschwindigkeit des Schiffs nimmt immer mehr ab, je höher am Wind wir fahren. Außerdem erfährt das Segelfahrzeug beim Am-Wind-Fahren die größte Krängung (das Schiff nickt durch den einfallenden Wind zur Seite und das Leben an Bord wird sehr ungemütlich). Theoretisch ist es möglich, gegen den Wind zu segeln, aber dies bedeutet: ein Winkel von insgesamt 120 Grad kann nicht gefahren werden, was zur Folge hat, dass sich die gesegelte Strecke vervielfacht, weil man kreuzen muss. Dazu kommt die verringerte Schiffsgeschwindigkeit, die erhöhte Windgeschwindigkeit an Bord, das Stampfen in die Welle und der Neigungswinkel des Schiffes, was das Leben an Bord zur sportlichen Turnübung werden lässt.
Die eigentliche Herausforderung liegt darin, dass man nicht direkt das Ziel ansteuern kann, sondern kreuzen muss. In unserem Fall ist das so, als würde man eine Reise von München nach Hamburg planen. Die Strecke beträgt ca. 800 km, die normalerweise mit dem Auto über die A8 und die A7 bewältigt wird. Beim Am-Wind kreuzen würde man von München via Stuttgart nach Paris, und dann über Amsterdam nach Hamburg fahren – und dies in der Geschwindigkeit eines gemächlich dahinfahrenden Radfahrers.
Als wir nun das nördlichste Cup von Grand Turks passierten und wir den neuen Kurs angesetzt hatten hieß es, hunderte von Meilen hoch am Wind, bzw. hart am Wind zu segeln, um unserem Ziel, Puerto Rico, näher zu kommen. Aton neigte sich um ca. 30 Grad und lief unter Segel mit ca. 4,5 Knoten Fahrt dahin. Die Wellen waren ekelhaft kurz und hoch, so dass es uns anständig durchschüttelte. Meile um Meile entfernten wir uns vom sicheren Land hinaus in den offenen Atlantik. Da wir die bereits beschriebenen 60 Grad zum Wind nicht segeln konnten, verschlug es uns sehr weit in nördliche Richtung. Wir teilten unsere Ruderwachdienste ein. Jeder hatte „4 Stunden on“, also Ruderwache und „8 Stunden off“, also frei. Ich (Franz) habe mich freiwillig für die allseits unbeliebte Hundewache (in unserem Fall von 02:00 – 06:00) eingeteilt. Das hieß in meinem Fall, dass ich morgens zwischen 02:00 bis 06:00 und nachmittags zwischen 14:00 bis 18:00 Uhr Dienst hatte. Wir gingen mit Marco die Einzelheiten des Bordlebens durch und begannen, uns an die Routine zu gewöhnen. Allerdings machten uns die Fülle an schlagenden und ächzenden Geräuschen des Schiffes, sowie die permanente Schräglage sehr zu schaffen. Alles im Schiff rollte auf eine Seite. Jede Tätigkeit im Schiff wurde zur Akrobatiknummer. Eine meiner ersten Maßnahmen bestand darin, die Kardanik unseres Herdes in Betrieb zu nehmen. Somit war die ebenste Fläche auf unserer Aton die Herdfläche.
Wollte man schlafen, so rollte man in eine meist relativ ungemütliche Ecke des Schlafraumes. Marco konnte nur quer im Bett eingeklemmt schlafen. Und als ob das noch nicht reicht, kamen zusätzlich die stampfenden Auf- und Ab- Bewegungen, hervorgerufen von teilweise 4 Meter hohen Atlantikwellen hinzu, welche die schlafende Person zeitweise in der Luft schweben und Bruchteile einer Sekunde später hart in seinem Bett aufschlagen ließen. Ich versuchte, am frühen Abend für meine bevorstehende Wache vorzuschlafen. Doch die vorherrschenden Bedingungen ließen dies nur sehr bedingt zu. Bei Michi, die bisher noch nie seekrank war, zeigten sich alsbald die ersten Anzeichen von Seekrankheit. Gottseidank gab sich dies aber bald wieder. Marco, in seiner stoisch ruhigen Art, ertrug diese Tortur auf seine Art. Jeder versuchte mit dieser Situation, so gut es ging, umzugehen. Meile um Meile, Stunde um Stunde, Schicht für Schicht bewegten wir uns mehr und mehr in nord/östliche Richtung. Dann entschlossen wir uns zu einer Kursänderung, damit wir nicht zu weit nach Norden gelangten. Nachdem wir das Manöver durchgeführt hatten und den maximalen Winkel segelten, stellten wir ernüchtert fest, dass wir nun 180 Grad anliegen hatten, also Südkurs. Nachdem wir nach ca. 48 Stunden wieder auf der Höhe von Turks waren, hatten wir uns wenige Meilen in Richtung Osten von unserem Abreiseort entfernt. Die Frustration war, wie ihr euch vorstellen könnt, dementsprechend hoch. Hinzu kamen Schlafentzug, eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse von schlagen, stampfen, klirren und knallen. Nachdem wir nach der zweiten Kreuz kein nennenswert besseres Ergebnis erzielten und nun auch noch der Wind einschlief, entschieden wir uns, unter Motor einen günstigeren Kurs einzuschlagen. Dies hieß aber für uns, dass nun zusätzlich zu dem bekannte Geräusch-Staccato auch noch der Motorlärm hinzukam. Ein hoher Preis, nur um schneller ans Ziel zu gelangen. Mittlerweile war es Dienstag, also bereits der dritte Tag auf See. Zu allem Überfluss stellte sich die angekündigte Änderung der Windrichtung nicht ein. Unsere Stimmung befand sich auf dem Tiefpunkt. Da nun, mit laufender Hauptmaschine ein Aufenthalt in der Gästekabine, die direkt neben dem Motorraum liegt, unzumutbar wurde, schlief Marco nun in der Bugkabine quer eingeklemmt. Michi, der es dort zu unruhig war (die Bugkabine macht die heftigsten Bewegungen), versuchte, im Salon mit Ohrenstöpsel auf der Sitzbank zu schlafen.
Ab dem Abend des dritten Tages machten wir gute Fahrt mit 7 bis 8 Knoten während der Nacht. Endlich waren die Wellen kleiner und länger geworden, so dass sich Aton nicht mehr gar so plagen musste. Wir hatten sowohl die Genua, als auch die Fock als Vorsegel gesetzt. Am Morgen sahen wir die Küste der Dominikanischen Republik bereits am Horizont. Die bergige Silhouette der Halbinsel Samana waren als Schatten zu erkennen. Wir diskutierten kurz, ob wir die Fahrt in der Domini-kanischen Republik unterbrechen sollten, entschieden uns aber dagegen. Augen zu und durch. Somit setzten wir einen neuen Kurs und fuhren unter Maschine direkt in Richtung Puerto Rico. Wir querten die Mona Passage, die Puerto Rico und die Dominikanische Republik trennt. Am späten Nachmittag passierten wir die steil ins Meer abfallende Felseninsel Desecheo Island, und danach erblickten wir endlich die Küste Puerto Ricos.
Mittlerweile bauten sich um uns herum bedrohend aussehende Regenwolken auf, die in der Ferne bereits abregneten. Wir bereiteten uns auf eine nasse Ankunft vor und zogen unsere Regensachen an. Der Wind nahm zu, weswegen wir unsere Segel refften. Bald aber schon fiel der Wind wieder ein, um dann wieder voll gegenan zu stehen. Die letzten Seemeilen stampften wir also wieder unter Motor in die riesige Bucht von Mayaguez. Endlich, um 21.30 Uhr fiel der Anker vor der Stadt, aus der laute Karaoke-Musik herüberschallte.
Insgesamt waren die ca. 620 Seemeilen in 4,5 Tage und 4 Nächte sehr anstrengend für uns. Die Schräglage, die Lautstärke der Geräusche, das in die Wellen Knallen unserer Aton, das Dröhnen des Motors und das deprimie-rend langsame Vorwärtskommen aufgrund des Am-Wind-Kurses zerrten an unserem Nervenkostüm. Wir machten uns immer wieder gegenseitig Mut, und versuchten die Langeweile mit lesen und Spanisch lernen zu bekämpfen. Michi und Marco hatten keinen Appetit, waren aber auch nicht wirklich seekrank. Die schönen Momente waren Michi`s Geburtstag, den wir mit einem von Marco und mir gebackenen Biskuit-Nutella-Kuchen feierten.
Außerdem wurden wir von 5 Delfinen längere Zeit begleitet, und insgesamt von drei Vögeln besucht, die uns sehr neugierig beäugt haben. Eine der schönsten Erlebnisse bei der Überfahrt waren die Nachtwachen, bei denen man den nächtlichen Sternenhimmel in einer nicht gekannten Klarheit sieht. Ich habe dutzende Sternschnuppen beobachtet, einige darunter, die kurz nach dem Eintritt in die Atmosphäre zerbarsten und sich in einem Funkenregen auflösten.